Die Geschichte vom hungrigen Bauern…

Die Geschichte vom hungrigen Bauern…

Die Geschichten vom hungrigen Bauern, dem Indianergeist und der Todesstunde

                   http://www.privatpraxis-sperling.com/images/Content/img/artikel/Xochicalcatl.jpgNicht weit von der kleinen Stadt Sacatecas entfernt wohnte ein Indianer. Er war bettelarm. Die karge Ernte, die ihm sein winziges Feld brachte, reichte niemals aus, um ihn, seine Frau und die vielen Kinder zu ernähren. Von Jahr, zu Jahr, wurden die Ernten geringer, während seine Familie immer größer wurde. Für ihn selbst blieb kaum etwas zu essen übrig, weil er sämtliche Nahrungsmittel seiner Frau und den Kindern gab.

Durch das große Elend wurde der Indianer zum Diebstahl verleitet. Er stahl ein Huhn und beschloss, weit von seinem Heimatort fortzugehen, um seine Beute dort in aller Ruhe verzehren zu können. Keiner würde ihm dabei zugucken und ihn bitten, das wenige mit ihm zu teilen.

Gesagt, getan. Der Indianer nahm einen zerbeulten Kessel und machte sich auf den Weg. An den entlegensten Berghängen rastete er. Schließlich hatte er ein Plätzchen gefunden, das ihm zusagte. Er zündete ein Feuer an und bereitete seine Mahlzeit zu. Dann sammelte er einige saftige Kräuter, legte sie in den Topf und kochte sich eine kräftige Suppe. Endlich war die Mahlzeit fertig! Der Indianer nahm rasch den Kessel vom Feuer und konnte es kaum erwarten, dass die Suppe ein wenig abkühlte.

Gerade hatte er den Löffel zur Hand genommen, als er bemerkte, wie ein Mann, dem Aussehen nach ein Ladino, zu seinem Platz kam. Der Indianer verbarg eilends den Kessel im Gebüsch und murmelte: „Verwünscht! Nicht einmal hier in dieser Bergwildnis ist man vor den Augen der Menschen sicher!“

Inzwischen war der Unbekannte bei ihm angelangt und grüßte freundlich: „Guten Morgen, Gevatter!“ „ Dir mag der Große Geist der Indianer eine guten Morgen wünschen“, versetzte der Bauer mürrisch. „Was tust du denn hier, Gevatter?“ „Gar nichts, Senor. Ich ruhe ganz einfach ein wenig aus. Hinter mir liegt eine lange Reise. Und Ihr? Wohin führt Euch der Weg?“ „ Ich kam nur deshalb vorbei, weil ich dich fragen wollte, ob du mir etwas zu essen ablassen kannst, Gevatter?“ „Aber Senor, ich habe doch selbst nichts zu essen!“ „Das kann doch nicht stimme, wozu hast du denn ein Feuer angezündet?“ „Ach Senor, Sie fragen wegen des Feuers? Nun, mich fror, und da wollte ich mich nur ein wenig aufwärmen.“

„Gevatter, du bist ein großer Lügner. Weshalb hast du dann einen Kochtopf im Gebüsch versteckt?“ „Senor, ich habe tatsächlich ein Huhnchen im Topf, aber ich gebe Ihnen davon kein Krümelchen ab. Nicht einmal mit meinen eigenen Kindern würde ich teilen. Ich bin in diese Einöde gezogen um mich wenigstens ein einziges Mal wieder richtig satt essen zu können. Auf keinen Fall werde ich das wenige, das ich habe, noch mit anderen teilen! „Aber Gevatter, sein doch nicht so habgierig! Gib mir wenigstens ein winziges Häppchen ab! Ich bin genauso hungrig wie du.“ „Nein, Senor, das kommt nicht in Frage. Mein ganzes Leben lang habe ich fast nur gehungert, und wenn ich ganz ehrlich sein soll, so bin ich nicht einen einzigen Tag richtig satt gewesen. Meiner Frau und meinen vielen Kindern habe ich immer zu essen gegeben und sehr oft lieber keine Bissen in den Mund genommen. Diesmal esse ich mein Huhn allein auf.“

„ Ich bat dich um ein kleines Stück Huhn, Gevatter! Du schlägst es mir ab und weißt gar nicht, wer ich eigentlich bin.“

„Wer du auch sein magst“, brauste der Indianer auf, „von mir bekommst du nichts!“ „ Und wenn ich dir sage, wer ich bin, gibst du mir dann etwas ab, Gevatter?“ Der Indianer lächelte: „Wer bist du denn schon?“ „Ich bin der Große Geist der Indianer, dein Gebieter!“ „ Wenn du wirklich der große Geist der Indianer bist, so gebe ich dir trotzdem keine Krume ab. Du bist ein sehr schlechter Beschützer der Armen und Hungrigen. Indianer, die ihr ganzes Leben arbeiten und für ihre Familie sorgen, die lässt du leer ausgehen. Mir hast du in meinem ganzen Leben noch nicht ein einziges Mal in ausreichender Menge zu essen gegeben. Ich war oft so hungrig und jetzt möchtest du auch noch von meinem Huhn essen. Da wird nichts draus!“ Der große Geist der Indianer versuchte noch lange, den Bauern mit vielen Worte zu überreden. Als er aber, vom Indianer, der unterdessen im Feuer stocherte, nicht länger beachtet wurde, gab er es auf und trollte sich.

Erleichtert atmete der hungrige Indianer auf. Kaum aber hatte er sich wieder seinem Hühnchen zugewandt, da triat aus dem Gebüsch ein anderer Unbekannter, klapperdürr und totenbleich, auf ihn zu. „Guten Tag, Gevatter!“ begrüßte der Ankömmling den Indianer, „sag mal, es duftet bei dir vorzüglich, hast du vielleicht etwas zu essen für mich?“

„Nein, Senor, ich habe nichts übrig.“ „Warum so geizig mein Freund? Gib mir ein Stück Huhn und einige Löffel von der kräftigen Suppe, die du da im Gebüsch verbirgst!“ „Da bist Du hier am falschen Platze. Ich gebe dir nichts ab.“ „Weshalb denn nicht? Du weißt mich einfach ab, und dabei kennst du mich gar nicht!“ „Wer solltest du denn schon sein! Selbst mein Gebieter, der Große Geist der Indianer, musste unverrichteter Dinge abziehen. Und wenn ich dem schon nichts gebe, dann werde ich dir wohl gleich gar nichts überlassen!“

„Das glaube ich aber doch nicht so ohne weiteres“, meinte der Fremde. „Du wirst mir schon etwas abgeben, wenn du erst weißt mit wem du es zu tun hast.“ „Jetzt bin ich aber wirklich neugierig“, meinte der arme Indianer. „Dann los, heraus mit der Sprache, sag mir wer du bist!“ „ Ich bin das letzte Stündchen und komme zu allem Menschen.“

„Das ist etwas ganz anderes. Warum hast du das nicht gleich gesagt? Mit dir will ich mein Hühnchen gern teilen, denn du bist gerecht. Du gehst zu allem Menschen und machst keinen Unterschied zwischen Alten und Jungen, Armen und Reichen. Für dich sind alle Menschen gleich, du bevorzugst niemanden und benachteiligst auch keinen Menschen. Und deshalb werde wir jetzt gemeinsam schmausen und uns an der Hühnersuppe gütlich tun!“

 

Zapotekisches Märchen au dem Süden Mexikos

Aus
Xochicalacatl Der betrogene Menschenfresser
Legende, Märchen; Mythen und Ursprungssagen
lateinamerikanischer Indianer

Nacherzählt von Harry Findeisen
Illustriert von Nan Cuz

Alfred Holz Verlag Berlin, 1971

Vorheriger Beitrag
Spuk im Gefängnis
Nächster Beitrag
Dia de los Muertos

Related Posts

Sie müssen angemeldet sein, um einen Kommentar abzugeben.