Die drei goldenen Haare

Die drei goldenen Haare

Es war einmal ein alter Mann. Mitten in der Nacht, in einer dunklen Nacht, ging er durch den Wald. Sein Licht war fast abgebrannt, und nur mühsam fand er seinen Weg. Da sieht er in der Ferne einen Schein, und Rauch steigt auf. Er geht darauf zu, und als er die Waldhütte erreicht, ist sein Licht niedergebrannt. Kaum, dass er die Tür aufgestoßen hat, sinkt er zu Boden. Am Feuer sitzt eine alte Frau, die Uralte. Als sie den Mann sieht, steht sie auf, geht zu ihm und trägt ihn zum Feuer. Da wiegt sie ihn in ihrem Schoß, und sie summt: „m-mm, m-mm, m-mm“, sie wiegt ihn in den Schlaf. Die ganze Nacht wiegt sie ihn und singt dazu ein altes Lied. Noch bevor der Morgen graut, ist der Alte zu einem jungen Mann geworden, zu einem Jüngling mit goldenem Haar. Die Alte singt weiter: „m-mm, m-mm, m-mm“, und der Jüngling schläft.

Als der Morgen dämmert, ist aus dem Jüngling ein Knabe geworden, und als die Nacht dem Morgen weicht, da zupft die Alte dem Kind drei goldene Haare aus und wirft sie auf den Boden. „Ping-ping-ping.“ Da wacht das Kind auf, die Alte lässt den Knaben vom Schoß, er läuft zur Tür, öffnet sie, und als Morgensonne steigt er zum Himmel hinauf.

Linde Knoch nach einem Märchen aus der Sammlung von Clarissa Pinkola Estés

Idee:

Der Interpretationen der Autorin selbst, dass es sich um einen erschöpften Mann handelt, der nach einer Nacht auf dem Schoße der Nachtgöttin Nyx wieder zu neuen Kräften gelangt und durch das auszupfen von drei goldenen Haaren, stellvertretend für Gedanken, seine Kreativität wieder findet und so zur glänzenden Sonne wird, kann ich nicht folgen. Die Symbolik ist für mich archaischer, ur-sprünglicher, als nur den alltäglichen Regenerationsprozess durch eine durchschlafenen Nacht zu beschreiben. http://www.med-etc.com/ps/Estes_tiefenpsychologie/10-schoepferkraft-kreativitaetskreislauf.html

Für mich ist das Märchen ein schamanisches Märchen, welches den Kreislauf des Lebens symbolisiert.

Die Alte steht für mich für die Natur. Sie sitzt am wärmenden Feuer. Wärme ist Ausdruck und Bedingung von Leben. Dort hält sie den verstorbenen Mann auf ihrem Schoß und wiegt ihn, bewegt ihn wie ein Kind. Auch Bewegung ist Bedingung des Lebens, Erstarrung und Kälte sind Tod. Aber auch im kältesten Winter, schläft das Leben tief drinnen in der Erde, im Samenkorn. Das Weibliche, die Mutter wiegt das Kind, die Ur-Mutter wiegt den Menschen, das ist sinnvoll und erfahrbar. Die Idee mit der Vergeistigung und Auflösung im milden Licht Gottes, nach dem Tod kam später mit der Christianisierung mit einer Vorstellung von einem maskulinen Gott.

Das Weibliche trägt das Leben. Das erinnert mich an die nordische Mythologie der drei Nornen, die den Lebensfaden spinnen. Auch sie bestimmen über das Schicksal der Menschen, selbst jenes der Götter.

Sie singt das alte Lied. Schamanen singen Lieder, Lieder der Wandlung. Lieder sind Schwingungen. Und mit Schwingungen wird Materie verwandelt. Es gibt heilende Melodien und heilende Worte, Schwingungen, die Systeme aufbauen und welche, die Systeme zerstören. Worte sind heilende Werkzeuge von Psychotherapeuten, Melodien sind Werkzeuge von Schamanen. Die Ur-Alte kennt die richtigen Lieder. Sie summt das Lied der Erneuerung. Und der Alte schläft. Alles geht wie im Schlaf. Er selbst wird später nichts davon wissen, sich nicht erinnern, höchstens im Traum. Dort gibt es Bilder vom Feuer und von der Ur-Alten. Sie liegen am Urgrund der Seele.

Und dann kommt der nächste Tag. Der tiefste dunkle Punkt ist überschritten, der Morgen naht und aus dem Alten ist ein Jüngling mit goldenem Haar geworden. Das Haar steht für Lebenskraft. Goldene Haare sind ein immenser Vorrat an neuer Lebenskraft. Die Verwandlung ist geglückt, aus dem Jüngling wurde der Knabe. Jetzt hört die Ur-Alte auf zu singen, hört auf zu wiegen.

Die Wiedergeburt wird eingeleitet. Der Knabe muss erwachen, aus seinem tiefen Traumschlaf. Zum Erwachen braucht es ein Signal. Sie zupft ihm ein Haar aus und wirft es auf den Boden. Das Symbol für die neu erschaffene Lebenskraft berührt die Erde. Dort gibt es einen Ton. Es ist das klirrende PING. Das ist der Moment wo das Erwachen geschieht. Dreimal muss es sein, denn die drei ist eine magische Zahl. Aller guten Dinge sind drei. Die drei ist der Brauch. Der Ton der vitalen Lebensenergie erweckt das Kind. Ping, Ping, Ping.

Das ist die Geburt. Er verlässt den Mutterschoß, ihre Aufgabe ist beendet. Er läuft zur Tür und wendet sich der hellen Welt zu und mit seiner Kreativität und seiner Lebenskraft beginnt er einen neuen Kreislauf und steigt zu seinem eigenen Zenit als Morgensonne hinauf. Das ist schamanisches Wissen über die Abläufe des Lebens, vom ewigen Kreislauf allen. Lebens. Hier gibt es keinen Tod nur tiefen heilsamen verjüngenden Schlaf. Eine großartige Geschichte menschlichen Ur-Wissens.