Tibetisches Totenbuch

Der tibetische Buddhismus spricht sich über eine Seelenwanderung aus, die den Menschen vor allem fortwährendes Leid bringt. Die Idee dahinter ist, dass die Person, die wieder geboren wird sich mit dem Leben, mit Krankheit, Alter und Tod auseinandersetzen muss. Um aus diesem Kreislauf, von Leben und Sterben aussteigen zu können, sollte der Mensch im Laufe der Zeit zur Erleuchtung gelangen. Denn nur dies garantiert eine Rettung vor dem ewigen Zyklus der Wiedergeburt. Erleuch-tung ist ein Zustand der über Leben und Tod hinausgeht.
Im tibetischen Buddhismus gibt es verborgene Sutren (indische Lehrtexte in Versform), verborgene Schätze, die vor vielen Jahren versteckt wurden, in Höhlen und Bergeingängen über das ganze Land verteilt und erst nach und nach wieder auftauchen. Eines dieser Sutren ist das Tibetische Totenbuch. Ende des 8. Jahrhunderts hat Padma Sambhava, als indischer Mönch, den indischen Buddhismus nach Tibet gebracht und diese Lehre schriftlich fixiert. Wahrscheinlich waren darin Anteile vorbuddistischer Lehren der Bon Religion enthalten. Auch das Tibetische Totenbuch war eines dieser Texte. Die Sutren verschwanden daraufhin und tauchten erst im 14. Jahrhundert wieder auf.
Wenn ein Mensch verstirbt, so vergeht zwar sein materieller Körper, aber das Bewusstsein, der Geist bleibt erhalten. Es wird auch beschrieben, dass der Verstorbene trotz des Todes genau hören, sehen und wahrnehmen kann. Sein Geist ist sogar 9mal klarer als noch zu Lebzeiten. Deshalb kann er auch die Texte und Unterweisungen, die für ihn gelesen werden gut verstehen. Auch kann er seine Verwandten sehen und sie hören. Allerdings kann er nicht mehr mit ihnen Kontakt aufnehmen, was den Verstorbenen sehr verwirrt und ängstigt, da er in den meisten Fällen nicht erkennt, dass er verstorben ist. Auch dies wird ihm durch die Unterweisungen kundgetan.
Das Tibetische Totenbuch wird auch Bardo Thödröl genannt. (tib.: bar do thos grol: Befreiung durch Hören im Zwischenzustand). Darin werden verschiedene Zwischenzustände beschrieben, die es ab dem Eintritt des Todes bis zum Moment der Wiedergeburt gibt. Insgesamt unterscheidet man laut buddhistischer Lehre 6 Bardos. Davon beziehen sich drei auf den Bereich des Lebens und drei auf die Zeit des Todes. Die Wanderung des Geistes durch die Bardos im körperlosen Zustand sind verworren und zum Teil beängstigend. Der Verstorbene kann sich leicht verirren und kommt so in Ebenen des Schreckens und des Leids. Das Ziel ist immer die Erleuchtung. Eine intensive Vorbereitung auf den Tod während des Lebens führ t dazu, dass der Verstorbene sich vor dem klaren Licht der Erleuchtung nicht fürchtet und nach seinem Ableben direkt in dieses eingeht. Damit hätte er den Kreislauf durchbrochen und würde im seligen Zustand des Geistes verweilen. Gelingt ihm das nicht, so wird er durch die Begleitung durch Unterweisung, durch die Zwischenzustände (Bardos) geführt und erhält immer wieder die Gelegenheit den Visionen des eigenen Geistes zu entkommen.
Die Buddhisten gehen davon aus, dass alles was wir erleben nach unserem Tod, Projektionen unseres eigenen Geistes sind. Diese Projektionen werden durch Unwissenheit, neurotischem Schleier und schlechtem Karma nicht als solche erkannt, sondern als Realität begriffen. Die scheinbare Realität ängstigt uns direkt und führt zur Flucht vor unseren eigenen Visionen. Die Gebilde, die vor dem Verstorbenen auftauchen, werden als gutmütige oder rasende Gottheiten beschrieben und beinhalten alle Facetten von Glückseligkeit bis hin zu brutaler Gewalt und blutigem Gemetzel. Diese Gottheiten sind ausgestattet mit kräftigen Symbolen, an denen der Eingeweihte erkennen kann, wo er sich gerade befindet. Dem Unwissenden erschrecken sie und er wird sich ängstigen. Damit können wir dem Kreislauf nicht entkommen, sondern steuern immer tiefer hinein. Am Ende steht eine Wiedergeburt. Der Weg durch die Zwischenwelt ist von vielen Fallen und albtraumhaften Erscheinungen begleitet. Natürlich auch von wundervollen Visionen. Die Gefahr besteht in dem Verweilen bzw. in der Verführung des Angenehmen und in der Flucht vor dem Beängstigendem. Beides sind nach der Lehre des Buddhismus nur leere Geistesschöpfungen. Unsere Bindungen an diese leeren Visionen schaffen uns die Leidenschaften, in Freude und Leid. Erst wer das erkennt, kann sofort erleuchtet werden.
Die Texte, die über eine Zeit von 49 Tagen gelesen werden, sollen dem Verstorbenen helfen, sich besser zurechtzufinden und ihm die Möglichkeit geben, Erlösung zu erlangen. Gelingt es, so ist die Person befreit.